Ava hat geschrieben:
Zuerst einmal die Sache mit der Schule, da gibt es etwas, was dir kaum jemand - auch bei den Ämtern nicht - sagen wird, aber es ist wichtig: von einem Ertaubten wird in ca. 80 % der Fälle erwartet, dass er absieht, selbst wenn er auf einer Hörgeschädigtenschule ist. Ich habe zwischen 1999 und 2001 auf einer Hörgeschädigtenschule das Abitur versucht, und musste nur absehen. Es gab keinen Unterricht in Gebärdensprache, das war regelrecht verpönt. Das ist in vielen Schulen so, denn es gibt in Deutschland etwas das man die "orale Methode" nennt. Die "orale Methode" bedeutet, dass in der Gehörlosenerziehung strikt gesprochen und abgesehen werden muss.
Zwischen 1999 und 2001? Heh, dann müßten wir uns eigentlich auch persönlich kennen, Ava, wenn du auch in Essen warst - ich war von 1998 bis 2002 dort

So wie du es erzählst, mußt du in einer Schwerhörigenklasse gewesen sein, in meinen Klassen haben einige Lehrer Gebärden benutzt, aber mehr in der Art von LBG oder LUG, aber das hat auch geholfen beim Ablesen. Oder sie haben auch extrem deutlich gesprochen, das war auch eine Hilfe. Nun ja, ich habe ja den größten Teil meiner Schulzeit in Schwerhörigenklassen verbracht, wo die Lehrer wirklich, so wie du es gesagt hast, keine Gebärden verwenden und hatte dann auf der Kollegschule in der Gehörlosenklasse, wo die Lehrer wahrscheinlich schon von Natur aus deutlich reden, fast gar keine Schwierigkeiten beim Ablesen - Gewöhnung.
Ava hat geschrieben:
Absehen funktioniert aber kaum einwandfrei, weil man nur 12-13 Buchstaben der deutschen Sprache wirklich absehen kann, den Rest muss man kombinieren (also überlegen, wie könnte das Wort sein), außerdem ist es anstrengend. Ich kann es nicht stundenlang und Geburtsgehörlose noch weniger.
Das stimmt. Eine ertaubte Frau hat meiner Mutter mal erzählt, man kann es höchstens eine halbe Stunde aushalten mit voller Konzentration und dann liest man auch nur so 30% wirklich ab, der Rest ist Kombinieren (Interpretation des Gesagten vom Inhalt des Gespräches her und der Körpersprache).
Ava hat geschrieben:
es wäre doch sehr idealistisch wenn zum Beispiel alle seine Freunde oder auch sein Freund (falls er einen hat) und die Eltern die Ertaubung akzeptieren würden. Vielen Hörenden ist es nicht nur zu mühsam langsam und immer in dein Blickfeld zu sprechen oder aufzuschreiben, sondern sie schämen sich auch mit dir gesehen zu werden, teilen dir vieles einfach nicht mit, bevormunden dich...
Das stimmt - für Ertaubte ist diese Problematik härter als für Geburtsgehörlose, da diese es ja nicht anders kennen und von daher mehr oder weniger voll in ihre Welt integriert sind. Ertaubte müssen sich praktisch ein neues Leben aufbauen, was oft wirklich hart ist - und man findet so oft auch heraus, was Freundschaft wirklich bedeutet, wenn die eigenen Freunde sich auch dazu bereit erklären, die Gebärdensprache zu lernen, um die Kommunikation zu erleichtern - oder sich von einem abwenden.
Ava hat geschrieben:
Ein persönliches Beispiel: meine Mutter verlangt noch immer, dass ich mit ihr ausnahmslos spreche und absehe, damit ja keiner merkt, dass ich nicht höre.
Ja, das ist auch ein wichtiger Faktor. Ein trauriges Beispiel von einer gehörlosen Freundin: Sie erzählte mir einmal, daß sie mit einem anderen Mädchen in der Stadt unterwegs war, die auch gehörlos war. Sie saßen in einem Café und unterhielten sich, aber als ein hübscher Junge vorbeikam, hörte das Mädchen auf zu gebärden und gab der Freundin zu verstehen, es auch nicht zu tun. Die Freundin wunderte sich und als der Junge weg war, fragte sie nach. Das Mädchen sagte, der Junge solle nicht von ihr denken, daß sie behindert sei - er solle einen guten ersten Eindruck von ihr bekommen. *seufz*
Ava hat geschrieben:
Je länger man taub ist verändert sich auch die Sprache (mir sagt man, ich betone mittlerweile falsch und weil ich meine Lautstärke nicht mehr kontrollieren kann - andere mögen es besser können - rede ich entweder zu laut oder zu leise). Das bedeutet, wenn die Stimmveränderungen anfangen, kann es sein, dass deine hörende Umwelt von dir verlangt sehr gewählt zu sprechen. Du musst dich dann wirklich konzentrieren.
Stimmt. Ich z.B. rede zu laut und wenn ich zu Hause bin, spreche ich mit meiner Familie (nicht weil ich muß, sondern weil es sich so ergeben hat im Laufe der Zeit), und da kann ich so 'schlampig' sprechen wie ich will, sie verstehen mich ja aus Gewöhnung. Aber wenn wir mal ausgehen in ein Restaurant oder so, muß ich immer drauf achten, leise zu sprechen, was auf die Dauer ziemlich anstrengend ist. Lange kann ich mich nicht darauf konzentrieren, weshalb ich da oft mit meiner Schwester gebärde, was für mich weniger stressig ist.
Ava hat geschrieben:
Viele hörende Menschen wenden sich jedoch auch nach der Ertaubung von dir ab, oder wollen dich gar nicht erst kennen lernen. (Bedenke das wenn er nach der Ertaubung auf Partnersuche geht).
Ein guter Freund von mir ist auch schwul, er ist hochgradig schwerhörig und er hatte auch Probleme, andere Schwule nach seinem Coming Out kennenzulernen - er hat am Anfang Schwulenchats besucht, wo sich ja nur Hörende herumtreiben und hat da auch einige näher kennengelernt, die ihm aber zu verstehen gaben, daß er ganz nett sei, sie aber nichts von ihm wollten, was wahrscheinlich an seiner Hörschädigung lag.
Ava hat geschrieben:
es ist ebenso idealistisch für einen Menschen zu glauben, Gebärdensprache zu können wäre ein Ticket. Erstmal brauchst du extrem lange bis du das flüssig beherrscht (es gibt Dialekte etc.), und ertaubt bedeutet nicht gehörlos.
Ich komme aus Nordrhein-Westfalen und in Hamburg benutzen meine Dolmetscher oft unterschiedliche Gebärden - letztens habe ich 'Donnerstag' gebärdet und meine Dolmetscher guckten mich nur verständnislos an, als ich es dann fingerte, kapierten sie es und zeigten mir die Hamburger Gebärde. *g*
Ava hat geschrieben:
Ein Ertaubter wird häufig - nicht immer, aber oft - von Gehörlosen abgelehnt. Viele Ertaubte (ich nicht) bleiben im Schwerhörigenverein und haben schwerhörige, nicht gehörlose, Freunde. Sollte dein Charakter also nach der Ertaubung sofort einen gehörlosen Freundeskreis aufbauen freuen sich zwar die Hörenden Leser - weil sie genau das glauben -, entspricht es jedoch nicht der Wahrheit.
Mh, ich muß hier auch Ava wieder zustimmen. Ertaubte sind vom Verhalten her Schwerhörigen ähnlicher, denke ich. Beide Gruppen haben weniger (?) Hemmungen im Kontakt mit Hörenden, beide können Hörende besser verstehen, beide haben oft eine bessere Sprachbeherrschung, und beide müssen meistens erst die Gebärdensprache lernen - man merkt es manchmal Leuten an, daß sie die Gebärdensprache später im Leben gelernt haben und sie nicht schon von klein auf konnten. Mein Freundeskreis besteht zum größten Teil aus Schwerhörigen und mit ihnen benutze ich meistens keine reine DGS, sondern so ein Mischmasch aus LBG und DGS, da ich bei ihnen auch Wortspielereien oder Slang aus der hörenden Welt anbringen kann - und umgekehrt benutzen sie auch meistens LBG, da viele von ihnen sich in der hörenden Welt bewegen und nur beim Kontakt mit einigen wenigen Hörgeschädigten/Gehörlosen (u.a. mir) die Gebärdensprache benutzen, die sie dann auch mehr als Unterstützung zum 'artikulierten' Gesagten benutzen.
Ava hat geschrieben:
All die "höheren" Berufe (also Makler, Anwalt etc.) kannst du im Prinzip vergessen. Deutschland ist noch nicht so weit.
Stimmt. Ich war ja in den Semesterferien für zweieinhalb Wochen in Miami und... *neid* Die sind uns hier in Deutschland meilenweit voraus.
Ava hat geschrieben:
Klar, es gibt Dinge, die Gehörlose und Ertaubte (ich benutze zwei getrennte Ausdrücke, denn ich bin nicht gehörlose, ich bin ertaubt und ich mag meine 20 hörenden Jahre nicht missen, auch wenn ich ohne Gehör ebenfalls klar komme) studieren können, Lehramt zum Beispiel. Aber das ist dann Gehörlosenpädagogik oder Informatik und der gleichen. Man muss immer die Kommunikative Barriere bedenken, du wirst in Deutschland für vieles nicht zugelassen.
Auch wieder richtig. In Hamburg bin ich z. Zt. die sechste, die Psychologie studiert. Es gibt noch einen, der noch studiert, aber er ist schon im 8. Semester. Alle anderen gehörlosen Studenten studieren entweder Informatik oder Gehörlosenpädagogik - es gibt einen schwerhörigen Studenten, der Mathematik studiert, aber er ist der einzige.
Ava hat geschrieben:
In den klassischen "Gehörlosenberufen" (Beispiel: Zahntechniker, technischer Zeichner, Koch, Drucker...) gibt es genau so wenig Stellen wie in den modernen Möglichkeiten (hörgeschädigte Mediengestalter, Bürokaufleute...).
Stimmt. Die Arbeitslosigkeit grassiert zur Zeit unter meinen gehörlosen Bekannten. *seufz*
Danke für den sehr informativen Beitrag, Ava!
